The Hate U Give

Ich wünschte, ich müsste dieses Buch nicht empfehlen. Ich wünschte, ich hätte es nicht gelesen, weil es einfach nicht aktuell wäre.

Leider ist das Gegenteil der Fall. Als wäre es eine überrealistische PR-Kampagne, spielte sich in Amerika zuletzt genau das ab, was im Roman erzählt wird. Ein Schwarzer wird von einem weißen Polizisten ermordet. Es entstehen Unruhen, Demonstrationen, Aufstände, Plünderungen. Der Polizist wird nicht verurteilt, kommt noch nicht mal vor Gericht.

Jetzt könnte man ja noch sagen, das sei alles weit weg. „Übern großen Teich“. Auch das ist leider nicht so. Menschen, wie die Politikerin Janine Wissler, die Anwältin Seda Basay-Yildiz oder die Kabarettistin Idil Baydar, bekommen mit NSU 2.0 unterzeichnete Morddrohungen geschickt. Laut Hessischem Rundfunk geht eine Spur zur Hessischen Polizei. Von deren Rechner könnten Daten abgerufen worden sein, die dann wieder in den Drohmails auftauchten. (https://cutt.ly/RayeJ4W)

Nun aber zum Roman von Angie Thomas. Es geht um eine junge Frau namens Starr, die dunkelhäutig ist und auf eine Schule geht, die vorwiegend von Weißen besucht wird. Sie fühlt sich ständig zwischen den Welten und schafft es nicht, diese miteinander zu verbinden. Nach einer Party fährt sie mit ihrem alten Freund Khalil in dessen Auto durch die Stadt. Sie werden von einem Polizisten angehalten. Kontrolliert. Khalil wird mit mehreren Schüssen in den Rücken ermordet. Starr muss es mitansehen.

Später wird sie von der Polizei zu dem Vorfall befragt. Es gelingt ihr nicht, die Sache ihres Freundes so darzustellen, dass der Polizist belangt wird. Sie traut der Polizei nicht. Zeitweilig nicht einmal ihrem eigenen Onkel, der ebenfalls Polizist ist. Sie hadert mit sich selbst. Glaubt, Khalil verraten zu haben. Sie sieht den Vater des Polizisten im Fernsehen, wie er die Tat seines Sohnes öffentlich rechtfertigt und Khalil als gemeingefährlichen Drogendealer hinstellt, der er nicht gewesen ist.

Ich habe die Geschichte durchs Starrs Augen miterlebt. Das war nicht schön. Ich wünschte, ich müsste dieses Buch nicht empfehlen. Ich wünschte, zumindest hier in Deutschland würde es keine vergleichbaren Situationen geben.

Ich empfehle „The Hate U Give“, weil es sich trotz allem sehr flüssig lesen lässt und weil es zu verstehen hilft, was es bedeutet, wenn man sich im eigenen Land, von der eigenen Polizei nicht geschützt fühlt.


Die Aussprache

Ein Kind sieht im Internet die Gruselfigur Momo, erschreckt sich, muss weinen, fragt: „Warum erfindet einer so was?“

Ein Schüler wurde gehackt, verliert dadurch seine Dateien, kann seinen Text nicht zu Ende schreiben, fragt: „Warum macht einer so was?“

Meine Frau und ich schauen eine Dokumentation über sexuelle Belästigung und Vergewaltigung, sind schockiert, fragen uns: „Warum machen Männer so etwas?“

Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, in der Nacht, in einer Mennonitenkolonie in Bolivien, in den Jahren 2005-2009.

Davon handelt der Roman „Die Aussprache“ von Miriam Toews aus dem Jahr 2018. Die Frage „Warum haben die Männer das gemacht?“ ist hier nur nebensächlich. Wir sind beim Lesen Zeugen des Moments (er dauert 48 Stunden), in dem diese Frauen beschließen, aus dem System, in dem die Vergewaltigungen möglich waren, auszubrechen, ein neues zu gründen und es neu zu gestalten.

In diesen 48 Stunden erleben wir mit, wie acht Frauen drei Möglichkeiten diskutieren:

  1. Nichtstun.
  2. Bleiben und kämpfen.
  3. Gehen.

Alle möglichen Aspekte werden diskutiert, unter anderem auch die Frage, wie mit den Söhnen der Vergewaltiger (zu denen auch die eigenen Männer gehörten), umzugehen sei:

„Mariche, hast du keine Angst, dass dein Liebling Julius zu einem Ungeheuer wird wie sein Vater, weil du nichts tust für seine Bildung, weil du nichts tust, um ihn über seinen kriminellen und verderbten Vater aufzuklären…“

Der Roman ist erschütternd, weil ich mich beim Lesen immer wieder gefragt habe, wie so eine kranke Gesellschaft entstehen kann, in der Frauen einfach vergewaltigt werden, ohne dass die Grundgedanken dieser Gesellschaft in Frage gestellt werden.

Dann ist mir erst aufgefallen, dass es in der Geschichte auch um unsere eigene Gesellschaft geht.


Frederick

Immer wieder denke ich gerne an Frederick, die Maus. Es ist ein Bilderbuch, aus dem Jahr 1967 von Leo Lionni, das mir im Kindergarten schon begegnet ist und mir dort vorgelesen wurde und welches ich auch meinen Kindern gerne vorgelesen habe. Es geht darin um eine Mausefamilie, die sich für den Winter vorbereitet und Vorräte sammelt. Nur Frederick sammelt Eindrücke, prägt sich Farben ein, prägt sich das Gefühl der Wärme der Sonnenstrahlen ein, prägt sich die Worte ein, die während der lustigen Sommerzeit gesprochen werden. Sitzt dabei scheinbar regungslos am Rand und tut nichts, augenscheinlich, während die anderen Mäuse arbeiten, fleißig am Getreidesammeln sind. Und Frederick wird auch immer darauf angesprochen: „Frederik, was tust du da? Du machst ja gar nichts. Du sonnst dich nur, du sitzt da faul rum. Was ist denn da?“ Und Frederik antwortet immer wieder: „Ich sammle die Sonnenstrahlen, ich sammle die Wärme, ich sammle die Worte.“

Der Winter kommt. Die Mäuse haben bald all ihre Vorräte aufgebraucht. Haben bald all ihre lustigen Geschichten vom Sommer erzählt. Und irgendwann erinnern sie sich an Frederik und sagen, in die Stille hinein: „Mensch Frederik, was ist mit deinen Vorräten?“ Frederik redet zu ihnen, trägt ihnen ein Gedicht vor, hätte sicherlich noch mehrere auf Lager gehabt, aber die Kürze des Bilderbuches, lässt nur ein Gedicht zu. Die anderen Mäuse freuen sich, weil sie Sprache zur Verfügung gestellt bekommen, Worte, das, was ihnen jetzt fehlt, in dem Moment und sagen zu Frederik: „Mensch, Frederik, du bist ja ein Dichter.“

Ich glaube, das ist es, was das Bücherschreiben ausmacht: Worte zur Verfügung stellen, da, wo sie fehlen, da, wo es schwer ist, das auszusprechen, was einem wichtig ist, da haben Bücher die Aufgabe, ein Speicher zu sein und Worte zur Verfügung zu stellen.


Carl Haffners Liebe zum Unentschieden

„Haffner wandelte mit so fröhlichem Ausdruck durch den Saal, als hätte er gewonnen.“

Das ist fast biblisch: Die Letzten werden die Ersten sein.

Ich fiebere mit. Carl ist ein rätselhafter Charakter.

Elf Jahre vor der Weltmeisterschaft spielt er bei einem unbedeutenden Turnier gegen einen älteren Spieler, der keine Chance gegen ihn hat. Trotz aussichtsloser Lage, bittet der andere Spieler um ein Remis. Carl überlegt lange und willigt letztendlich ein, obwohl er deswegen den Turniersieg hergibt.

Das Buch spielt vier Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Carl spielt Schach, damit er eine Armee befehligen kann, obwohl er aufgrund seiner sozialen Herkunft keine Chance hat, eine Offizierslaufbahn einzuschlagen.

Abwechselnd lesen wir ein Kapitel vom Weltmeisterkampf 1910 und ein Kapitel, welches uns Carls Geschichte beginnend vor seiner Geburt bis zum Weltmeisterkampf darstellt. Dabei findet eine extreme Fokussierung auf diesen einen Charakter statt. Emanuel Lasker, sein Gegner, ist exakt spiegelbildlich angelegt. Er ist weltgewandt und charismatisch, ansonsten weiß man über ihn kaum etwas. Haffner ist ein Mensch, der ganz auf das Unentschieden aus ist. Was an sich für einen Schachspieler an sich eine merkwürdige Einstellung ist.

Das Buch fasziniert und erschüttert mich. Es entfaltet eine beklemmende Atmosphäre. Dann dieser Anti-Held, der nicht gewinnen will. Der aber trotzdem glücklich ist. Der dann aber kraftlos ums Leben kommt. Der nur Schach und seine Halbschwester Lina geliebt hat. Der aber auch keinem was zu Leide tut. Er ist sicher kein Vorbild und erinnert mich an Bartleby, den Schreiber, diese Figur von Hermann Melville, der stets sagt: „Ich möchte lieber nicht“. Beide sterben. Klar, wir alle sterben. Eigentlich kommt es nur darauf an, was wir vorher tun.